Ohne einen gemeinsamen Sinn in unserem Tun würde uns die Orientierung und am Ende auch die Kraft fehlen, die vor uns liegenden Aufgaben zu bewältigen.
Für mich – ich denke: für uns alle – ist die Menschenwürde der Ausgangspunkt. Nutzenargumente, Priorisierungen, Kalkulationen – wer bringt uns was, wer kostet uns wieviel – sind erlaubt, aber die Menschenwürde ist nicht verhandelbar.
Von Menschenwürde zu sprechen, heißt nicht nur, die Schutzbedürftigkeit zu sehen. Die Würde, die ich meine, speist sich nicht zuletzt aus Verantwortung. Verantwortung ist der Spiegel der Schutzbedürftigkeit. Verantwortung, die wir zu übernehmen fähig sind, und deshalb auch übernehmen müssen, wenn wir die Möglichkeit dazu haben. Jeder nach seiner Kraft. Mein Eindruck ist, wir sind in einer Lage, in der so etwas wieder gesagt werden muss.
Zonen der Sicherheit schaffen und Umsiedlungen organisieren
Wenn Menschen in Not geraten, dann müssen wir helfen, soweit es in unserer Macht steht. Das heißt zunächst Zonen der Sicherheit schaffen, innerhalb der Herkunftsländer oder in ihrer Nähe. Und dort das Leben möglich und erträglich machen.
Wenn es absehbar keinen Frieden, keinen Wiederaufbau, keine Rückkehroption gibt, müssen Umsiedlungen organisiert werden. Ich bin der Auffassung, dass dieses System weltweit garantiert werden muss, und natürlich nicht nur von und nach Europa. Niemand hier in diesem Raum wollte Jahre seines Lebens in einem Lager fristen oder gar seine Kinder dort aufwachsen sehen. Also muten wir es mit Kant auch niemand anderem zu.
Von den über 60 Millionen Geflüchteten und Versprengten weltweit, befinden sich fast 90 Prozent in ihren Ländern oder in unmittelbarer Nähe. Das ist nur dann eine gute Nachricht, wenn wir sehr eng und sehr kurzfristig denken. Denn auf diese Weise destabilisieren wir ganze Regionen. Spätestens hier kommen neben den humanitären Fragen auch Interessen ins Spiel: wir wollen Stabilität, Frieden, Handel, also müssen wir etwas dafür tun.
Dublin-Reform
In Europa brauchen wir eine Reform von Dublin, und zwar an Haut und Haaren. Wir haben die Probleme bislang weitgehend auf die Länder an den Außengrenzen abgewälzt. Das muss ein Ende haben. Wir brauchen Solidarität, sonst ist Europa sinnlos.
Ein konkretes Beispiel: Heute engagieren sich die einen Beamten, Geflüchtete aus Italien umzusiedeln, weil wir in der EU vereinbart haben, 160.000 Menschen neu zu verteilen. Gleichzeitig engagieren sich andere Beamte, Geflüchtete aus Deutschland nach Italien zurück zu verbringen, weil sie über Italien nach Deutschland eingereist sind. Wir müssen so einen Schwachsinn beenden.
Übrigens sind unter denen, die wir zurückschicken, solche, die bereits angefangen haben unsere Sprache zu lernen, vielleicht schon erfolgreich ein Praktikum gemacht haben und das tun, was wir erwarten, nämlich sich integrieren. Wir schicken sie weg und bekommen dafür Leute, die wieder bei null anfangen. Das ist völlig absurd. Wir sollten europäische eine Lösung finden, um die Dublin-Fälle pragmatisch auf die verabredeten Kontingente anzurechnen.
Sinnvolle Arbeitsteilung
Ich kenne kein Unternehmen, in dem alle das Gleiche machen, unabhängig von Kompetenzen, Ressourcen, Überzeugungen. In der EU ist aber genau dies die Erwartung und der Versuch einer gängigen Praxis.
Ich denke, wir könnten die Blockade in Europa versuchen aufzulösen, indem wir die Migrationsagenda und auch andere Themen als Paket sehen, zu dessen Umsetzung alle nach ihren Kräften und Vorstellungen beitragen. Das Leben ist kein Wunschkonzert, aber die Voraussetzungen sind eben auch nicht überall gleich. Die einen können also beispielsweise mehr Migranten aufnehmen, die andern tun dafür mehr für den Schutz der Außengrenzen. Ich halte dies für einen vernünftigen Gedanken.
Seenotrettung
Schließlich: das Jahr strebt bereits seiner Mitte entgegen, die sogenannte Balkanroute ist auf beschämende Weise geschlossen worden. Es ist zu befürchten, dass die Wege über das Mittelmeer wieder an Attraktivität gewinnen. Ich danke allen Beteiligten für ihr Engagement, Menschenleben auf dem Mittelmeer zu retten. Mein Ziel ist es, die Zahl der Toten im Mittelmeer in diesem Jahr mindestens zu halbieren. Das wären 2016 immer noch 1.900 Opfer. Ich rufe alle Verantwortlichen dazu auf, ein europäisches Seenotrettungsprogramm zu schaffen, mit dem wenigstens dieses erreichbar wird.