Die Stadtbild-Debatte ist ein Musterbeispiel, wie man die Radikalen im Land immer weiter stärkt. Wer sagt es Herrn Merz? Denn er spricht mit dem verbreiteten Unsicherheitsgefühl vieler Menschen ein Problem an, für das seine Partei mit die Verantwortung trägt, ohne eine Lösung anzubieten.
Im Gegenteil: das Unsicherheitsgefühl wird weiter geschürt, indem der Begriff „Stadtbild” mit „illegaler Migration” verbunden wird. Ich komme aus einer Stadt mit einer großen psychiatrischen Einrichtung. Da passt so einiges nicht in ein Stadtbild, wie es Herrn Merz vielleicht vorschwebt. Menschen zeigen in der Stadt abweichendes, auffälliges Verhalten. Aber sie sind krank, nicht illegal. Dabei ist im Übrigen nie auszuschließen, dass nicht doch einmal etwas passiert. Aber in der Stadt hat man ziemlich gut gelernt, wie das Zusammenleben der mehr oder weniger Gesunden mit den mehr oder weniger Kranken im Alltag funktionieren kann. Das geht nicht, wenn man allen, die vielleicht „im Stadtbild” auffallen, unterstellt, sie könnten Böses im Sinn haben oder gefährlich sein.
Die Aussage von Herr Merz bringt Menschen dazu, nach dem Aussehen, vielleicht dem Grad an Fremdheit von anderen Menschen beurteilen zu wollen, wie sicher sie sich fühlen können. Nach dem Motto: das sind wahrscheinlich alles Illegale! Die Folgen davon sind Misstrauen, Generalverdacht und mehr Unsicherheitsgefühl. Die Gegendemonstranten wiederum, die meine bisherigen Ausführungen vielleicht gutheißen, leisten der Lage auch einen Bärendienst. Denn sie werden so verstanden, als ob es keine Probleme mit dem Sicherheitsgefühl und auch der Sicherheit an manchen Orten der Republik gäbe. Und dann sekundiert noch der unglückliche Herr Banaszak, die „Linken” (Wen meint er genau? Die verbliebenen in seiner Partei?) dürften die Probleme nicht länger ignorieren – als ob „sie” das tatsächlich täten. Die BILD-Zeitung freut das immerhin, denn sie hat einen hochrangigen Kronzeugen für ihre kruden Thesen gefunden. Wenn Menschen das Gefühl haben, die einen schwadronieren nur herum und die anderen ignorieren, was einem wichtig ist, bleibt ihnen fast nur die Stimme für die Radikalen, und sei es als Denkzettel für die „Etablierten”.
Was tun? Gut wären auch einmal Demonstrationen für mehr Sicherheit von Menschen, die sich begründet oder auch nur gefühlt nicht frei im Lande zu bewegen trauen, etwa als Frau, als Jude oder händchenhaltend als homosexuelles Paar. Denn sich frei und ohne Angst im Lande bewegen zu können, ist doch tatsächlich ein Ziel, für das man eintreten und das man für alle Menschen anstreben sollte. Also eines, das überhaupt nicht polarisieren müsste, weil sich darin praktisch alle einig sein könnten.
Eine Frau sagte mir einmal in einem Stadtzentrum in meinem Wahlkreis: „Herr Castellucci, manchmal fühle ich mich fremd im eigenen Land.“ Das ist noch weder rechts noch ausländerfeindlich. Hier braucht es keine politische Bildung, sondern Empathie, was sich tatsächlich im Umfeld der Frau in den letzten Jahrzehnten alles verändert haben mag. Die Frage ist, wer setzt eigentlich die Menschen, bunt wie sie sich zunehmend zusammensetzen, neu miteinander in Beziehung? Im Haus, im Kiez oder im ganzen Land? Menschen sind uns so lange fremd, bis wir sie kennenlernen. Und Spielregeln für das Zusammenleben, auch wenn sie qua Gesetz gelten, müssen immer neu eingeübt werden, wenn es ein gutes Zusammenleben sein soll. Schon als Kinder rennen die einen neugierig auf alles Fremde zu, die anderen verstecken sich hinter dem Bein der Mutter – sie fremdeln. Dabei ist beides gut: Die Offenheit, zu der wir fähig sind, und die Wachsamkeit, die uns schützt. „Morgens Fremde, mittags Freunde”, sang Juliane Werding in den 70er Jahren. Dieser Songtitel weist uns den Weg. Auf diesem Weg brauchen die Menschen Unterstützung, in den Städten und Gemeinden, in den Unternehmen oder den Hochschulen.
Die „Wiener Charta“ zeigt, wie das gelingen kann. In Wien haben über 8000 Teilnehmende eine Vereinbarung erarbeitet, wie sie miteinander respektvoll zusammenleben wollen – über kulturelle und andere Grenzen hinweg. Die Kernidee dabei: besser miteinander, als übereinander reden. Zusammen gekommen sind simple, im Alltag aber doch oft wenig selbstverständliche Dinge: „Ein einfaches Bitte oder Danke”, „Kinderlärm ist kein Lärm” oder „Wir respektieren ältere Menschen”. Ein solcher Verständigungsprozess, eine „Charta für gutes Zusammenleben” täte auch unserem Land gut.
Begegnungen sind zentral. Dafür braucht es aber Räume und professionelle Quartiersarbeit. Die 40.000 kirchlichen Gebäude, die in den nächsten Jahren veräußert werden müssen, oft innerörtlich, stadtbildprägend, sind dafür eine riesige Chance. Denn daraus können neue Orte der Begegnung für alle werden, wie Dorfgemeinschaftshäuser oder interkulturelle Cafés. Ein Bundesprogramm „Orte der Begegnung“ mit klaren Förderrichtlinien, die Vielfalt vor Ort einfordern, sollte das unterstützen.
Lösungen gibt es auch für die tatsächlichen Problemzonen, wo man sich abends oder alleine vielleicht nicht hin traut. Der Bund könnte bundesweit 100 Quartiere mit besonderem Entwicklungsbedarf auf dem Weg in eine gute Zukunft unterstützen. In Vierteln, die in besonderem Maße von Unsicherheit und Armut betroffen sind. Alle diese Punkte hat die SPD übrigens 2021 bereits beschlossen – die Probleme werden nämlich keinesfalls ignoriert, sie werden gesehen, Lösungen werden entwickelt. Woran es hapert, wie so oft in unserem Land, ist die Umsetzung. Wie drängt man die Radikalen zurück? Indem man konsequent und mit nachweisbaren, spürbaren Erfolgen daran arbeitet.

