Der Blick in die Nachrichten fällt aktuell besonders schwer. Das enorme Leid der Menschen im Gazastreifen und die anhaltende humanitäre Krise sind inakzeptabel. Besonders das Schicksal der Kinder und die stetig steigende Zahl ziviler Opfer durch die militärischen Operationen der israelischen Armee sind zutiefst erschütternd. Es darf keine Gewöhnung geben und keinen Fatalismus. Das Leid muss gesehen, Verantwortliche müssen benannt und Lösungen mit größtem Nachdruck eingefordert werden. 

Deutschland steht als Garant für das Existenzrecht Israels. Das ist unsere Verantwortung aus den singulären Gräueln der Vernichtungspolitik während der Nazi-Diktatur. Existenzrecht bedeutet, dass sich Israel verteidigen können muss, Verantwortung bedeutet zugleich, dass Deutschland dazu beiträgt. Es ist jedoch kein Freibrief für Israel.  

Die Staatsgründung Israels erfolgte auf der Basis eines Beschlusses der Vereinten Nationen. Dieser sah allerdings nicht nur einen jüdischen, sondern gleichfalls einen palästinensischen Staat vor. Eine solche, international anerkannte und tragfähige Zweistaatenlösung ist bis heute nicht erreicht worden. Sie bleibt Ziel deutscher Außenpolitik. Die Freundschaft mit Israel ist nicht gegen Völker gerichtet, die mit Israel friedlich zusammenleben wollen. Deutschland ist ebenso ein Freund des palästinensischen Volkes. Niemand muss sich entscheiden, ob ein Mensch diesseits oder jenseits einer anerkannten oder nicht anerkannten Grenze mehr wert sei als ein anderer. Menschenrechte entscheiden sich eben nicht für eine Seite, sondern gelten universell. Sie sind unteilbar. Leben ist das erste Menschenrecht. Alle haben die gleiche Würde. Deshalb: Wir müssen das Leid und die Hoffnungen beider Seiten sehen. Nur so kann es Frieden geben – wenn man ihn weiterhin für möglich hält, trotz aller Widerstände und täglich neuer Zweifel.  

Israel hat am 7. Oktober 2023 einen beispiellosen Angriff der Hamas erlebt, mit über tausend Todesopfern, Vergewaltigten und Verschleppten. Noch immer befinden sich 50 Geiseln in der Hand der Hamas. Unter welchen grausamen Bindungen sie dort festgehalten werden, haben die jüngsten Bilder von Evyatar David und Rom Braslavski gezeigt. Sie alle müssen umgehend freigelassen werden, bedingungslos. Damit könnten, so zumindest die Aussage der israelischen Regierung, die Kampfhandlungen sofort beendet werden. Die Hamas ist eine Terrororganisation, die ihr eigenes Volk unterdrückt und als lebende Schutzschilde missbraucht, was zu den immensen zivilen Opfern beiträgt. Dennoch sei an einen Satz von Erhard Eppler erinnert: “Der Terrorismus entsteht aus einer Schwäche heraus.” Der Kampf gegen den Terrorismus ist nicht mit Krieg zu gewinnen. In der Diskussion um den Konflikt zeichnen beide Seiten ihre einseitigen Bilder. Wer es politisch besonders korrekt versucht, bemüht sich, alle relevanten Aspekte in der richtigen Reihenfolge und Gewichtung zu präsentieren. Etwa die stete Bedrohung des Staates Israel durch Tunnelsysteme und Raketen auf der einen, die völkerrechtswidrige Landnahme und mangelnde Perspektiven in den besetzten Gebieten auf der anderen Seite. Oder die Vertreibungen. Die Wurzel des Konfliktes liegt jedoch in dem Anspruch auf Land, den beide Seiten erheben. Er ist nicht zu lösen, indem man erlebtes Unrecht gegeneinander aufrechnet, sondern nur, indem beide Seiten ihr Land erhalten und zugleich die Garantien, dass sie es auch behalten können. Erst auf dieser Basis wird man auch über Unrecht sprechen können mit dem Ziel, es zu überwinden.    

Doch die Menschen können auf diese Lösungen nicht warten. Gerade für die andauernden Konflikte gelten die Grundsätze, auf die sich die Staatengemeinschaft verpflichtet hat. Diese sind unmissverständlich – und sie müssen mit allem Nachdruck gegenüber der israelischen Regierung eingefordert werden:   

  • Die Zivilbevölkerung ist zu schützen.  
  • Humanitäre Hilfslieferungen müssen ungehindert passieren.  
  • Überlebenswichtige Hilfe muss die Betroffenen ohne Angst um Leib und Leben erreichen.  
  • Helfer der Vereinten Nationen und anderer Hilfsorganisationen müssen ihre Arbeit ohne Einschränkungen fortsetzen können.  

Es ist klar, dass nur eine Feuerpause dafür die Voraussetzungen schaffen kann. Ich begrüße jede Initiative in dieser Richtung, zuletzt die des Vatikans.  

  • Jegliche Pläne, die auf die Vertreibung von Menschen hinauslaufen, sind nicht akzeptabel und müssen gestoppt werden. Das gilt auch für die Westbank und Gebiete, in denen sich Siedler völkerrechtswidrig ausbreiten. 

Auf palästinensischer Seite stehen hingegen eine Terrororganisation und die  Autonomiebehörde unter Leitung der Fatah, deren demokratische Legitimation allerdings bald zwanzig Jahre zurückreicht. Damit ergeben sich Fragen: Selbst wenn man Frieden schließen wollte – mit wem? Wie  sicher ist, ob die Bevölkerung das, was in ihrem Namen ausgehandelt wird, für legitim halten wird? Wie tragfähig wäre dann ein ausgehandelter Frieden? Wie immer in Kriegen kann erwartet werden, dass sich die Zivilbevölkerung vor allem Frieden und neue Lebensperspektiven wünscht. Aber ebenso ist absehbar, dass der Krieg neue Radikalisierung und Revanchedenken hervorbringt. Für eine friedliche Koexistenz zweier Staaten müsste auch in einem palästinensischen Staat eine Regierung das Gewaltmonopol beanspruchen und durchsetzen. Die internationale Staatengemeinschaft muss die palästinensische Seite dringend darin begleiten, zu einer solchen demokratisch neu legitimierten Neuaufstellung zu kommen.  

Die Anerkennung des Staates Palästina wurde bislang verknüpft mit der Voraussetzung eines Friedensschlusses mit einer dafür legitimierten Regierung. Damit ist das Druckpotenzial für eine Zweistaatenlösung einseitig auf die Palästinenser gerichtet, weil man annahm, die israelische Seite sei sofort zum Frieden bereit, wenn sie nicht mehr angegriffen würde. Gleichzeitig sind aber Grenzfragen offen, wird der unrechtmäßige Siedlungsbau vorangetrieben und sind generell die Lebensbedingungen in den besetzten Gebieten nicht dazu geeignet, Frieden zu stiften. Die Zweistaatenlösung wird heute von der israelischen Regierung in Frage gestellt. Vor diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, dass es international Bewegung gibt, Palästina auch vor verhandelter Zweistaatenlösung als Staat anzuerkennen, auch weil beide Seiten dann auf Augenhöhe um eine solche friedliche Lösung verhandeln könnten. 

Kritik an der israelischen Regierung ist selbstverständlich legitim und sogar geboten. Sie wird auch jeden Tag betrieben, vielleicht mehr als gegenüber anderen Regierungen in der Welt, nicht zuletzt in Israel selbst. Vor Synagogen und jüdischen Einrichtungen in Deutschland oder anderswo auf der Welt hat sie aber nichts verloren, das ist Antisemitismus. Wer sich allerdings äußert, als wäre er das Sprachrohr der israelischen Regierung, kann dafür selbstverständlich kritisiert werden, das ist noch kein Antisemitismus. Genauso gilt: Solidarität mit Palästinensern oder Kritik an der israelischen Regierung sind keine Rechtfertigung für Gewalt. Für mich steht fest, dass Deutschland eine besondere Verantwortung für jüdisches Leben und den Staat Israel hat und haben wird. Aber wir müssen wieder einüben, über diese Fragen miteinander zu sprechen. Sonst gefährden wir in Deutschland die Solidarität mit Israel, die wir doch aus unserer Geschichte heraus als unverbrüchlich begreifen sollten. 

Gerade die Freundschaft mit Israel, verbunden mit der Kritik an der Vorgehensweise seiner Regierung und deren fortgesetzter Missachtung der internationalen Staatengemeinschaft in der humanitären Frage in Gaza, macht deutlich, dass Deutschland sich nun zu weiteren Schritten entschließen muss: 

  • Rüstungsexporte deren völkerrechtskonformer Einsatz nicht zweifelsfrei gewährleistet ist, müssen ausgesetzt werden. 
  • Die humanitäre Hilfe Deutschlands, die bereits mehrfach deutlich aufgestockt wurde, muss weiter verstärkt werden und die Betroffenen auch sicher erreichen können. 
  • Initiativen für eine tragfähige Zweistaatenlösung sind dringlicher denn je und müssen zur Bedingung für weiteres Engagement gemacht werden. 
  • Beim Wiederaufbau in Gaza muss Deutschland aktiv mitwirken, wie es die Bundesministerin für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit angekündigt hat.  

Trotz der aktuellen Geschehnisse bin ich dagegen, dass wir Israel alleinlassen oder international isolieren. Die Feinde Israels, deren Ziel die Vernichtung des ganzen Staates ist, freuen sich über diese Debatten. Wir müssen auch hier unterscheiden zwischen dem, was eine (in Teilen rechtsradikale) Regierung betreibt und dem Land und den Menschen. Diese Differenzierung muss sich auch in unserer Sprache und unserem Handeln widerspiegeln. 

“Nie wieder” bedeutet: Menschenrechte first, für alle Seiten.