Liebe Genossinnen und Genossen,

liebe Freundinnen und Freunde,

in der vergangenen Woche bin ich nach Israel und in die palästinensischen Gebiete gereist, um mir vor Ort ein Bild von der Lage zu machen. Die Bilder aus Gaza sind unerträglich und noch immer sind 48 Geiseln in den Händen der Hamas, darunter auch deutsche Staatsbürger.

Wer ist schuld an diesem Konflikt? Diese Frage wird oft gestellt, doch für mich standen andere im Vordergrund: Wie können elementare Menschenrechte eingehalten werden – gerade während des Krieges? Wie kann humanitäre Hilfe sichergestellt werden, so wie sie benötigt wird? Deutschland ist ein großer Unterstützer des humanitären Systems. Kommt unsere Hilfe überhaupt an? Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit. Ich bekomme viel zu lesen, was man als Propaganda bezeichnen muss und habe deshalb versucht, mir ein möglichst belastbares Bild zu machen.

Nach meinem ersten Termin mit Boschafter Steffen Seibert, treffe ich Noam Hofstadter vom Komitee gegen Folter in Israel und Guy Shalev von „Ärzte für Menschenrechte“. Sie überreichen mir eine Liste dringend benötigter Medikamente für Gaza. Ich werde mich nicht entscheiden für die Menschenrechte der einen oder der anderen Seite. Menschenrechte gehören allen Menschen.

Ich will Israel nicht beweisen müssen, dass ich für sein Existenzrecht einstehe und die unverbrüchliche Freundschaft unserer Völker. Gerade als Freund Israels ist meine Sorge, dass Israel die Freunde abhandenkommen, wenn die israelische Regierung so weiter macht. Dabei dürfen wir angesichts der immer neuen Bilder aus Gaza nicht vergessen, was für ein Einschnitt der 7. Oktober 2023 für Israel war. Die Geiseln sind überall präsent. Im Familienforum treffe ich den Vater einer der verschleppten Geiseln. Seit 22 Monaten hat er nur von freigelassenen Geiseln ein Lebenszeichen seines Sohnes erhalten. Er will, dass der Krieg endet, weil dessen Fortsetzung seinen Sohn gefährdet. Was soll man sagen? Darüber habe ich vor der Reise immer wieder nachgedacht. Ich danke ihm, dass er mit mir spricht. Er dankt mir, dass ich gekommen bin. Er will nach Berlin kommen, nach London, Paris. Der Krieg soll enden, damit sein Sohn freikommen kann.

Beim Mittagessen spreche ich mit NGO-Vertretern über Zukunft. Die Zweistaatenlösung, an der wir auch als deutsche Regierung festhalten, ist in weiter Ferne, ihre Voraussetzungen werden eher systematisch zerstört. Aber wie anderswo auch: die Empörung darüber und die Kritik sind lauter und emotionaler als die eigene Vision. Mein Dauerthema: wie schaffen wir es wieder, Menschen für progressive Politik zu begeistern?

In der deutschen Botschaft spreche ich mit Julien Lerisson vom Roten Kreuz. Was für ein Glück, dass es diese Organisation gibt, die Zugang auch in Kriegsgebiete hat. Die Botschaft ist klar: es braucht mehr humanitäre Hilfe für Gaza und diese muss die Menschen in Gaza auch erreichen. Übrigens auch die verbliebenen Geiseln.

Ich bekomme hochrangige Briefings durch die israelische Seite, spreche mit Lieutenant Colonel Yotam Shefer von COGAT (Coordinator of Government Activities in the Territories), mit einem Vertreter des Nationalen Sicherheitsrats und habe ein Treffen im Außenministerium.

Anschließend geht es nach Ost-Jerusalem. Im Augusta-Victoria-Krankenhaus treffe ich auch den evangelischen Probst Joachim Lenz, den ich noch gut aus seiner Berliner Zeit kenne. Der Lutherische Weltbund ist Träger des Krankenhauses. Der Leiter Dr. Fadi Atrash sagt mir, dass sie hier die Möglichkeiten hätten, Patienten auch aus Gaza zu behandeln, 40 Minuten sind es bis zur Grenze, aber die Menschen kommen nicht raus. Hier wird unter schwierigsten Bedingungen Großartiges geleistet – auch mit deutscher – unserer – Hilfe.

Aber nicht jede Hilfe kommt an. Auf Vermittlung deutscher NGOs besuche ich eine Lagerhalle des Roten Halbmonds. Während mir im Ministerium gesagt wird „es gibt keine Beschränkungen für humanitäre Hilfe“ sehe ich hier palettenweise Güter, die nicht transportiert werden können. Auch aus Deutschland. Auch medizinische Güter, wie sie auf der Liste der Ärzte für Menschenrechte stehen. Ein Rollstuhl gilt zum Beispiel als „dual use“ – vielleicht könnte daraus ja Material für Waffen gewonnen werden.

Auch mit der palästinensischen Seite führe ich Gespräche, etwa mit der Sozialministerin Samah Hamad. Wir sprechen über Gaza, die Situation im Westjordanland, aber wir werfen auch einen Blick voraus: Was können wir heute schon tun, damit sich aus den Demütigungen von heute nicht immer wieder neuer Hass von Morgen bildet, für ein friedliches Zusammenleben beider Völker – und ihren liebsten palästinensischen Volkstanz.

Vor der Residenz der deutschen Vertretung dann plötzlich querstehende Autos, obszöne Gesten, Geschrei und irgendetwas fliegt gegen unsere Autokolonne. Drinnen erfahre ich später: das ist alltägliche Siedlergewalt, die sich eben auch gegen diplomatisches Personal richtet. Es ist nichts passiert. Das Bundeskriminalamt passt gut auf mich auf. Unsere Fahrzeuge sind gepanzert. Aber ich frage mich: Wie fanatisch muss man sein, wenn selbst die Mittler als Feinde gesehen werden? Frieden muss man wollen.

In der deutschen Vertretung lasse ich mir unter anderem die Siedlungspläne im sogenannten „E1“-Gebiet zeigen, die von der israelischen Regierung massiv vorangetrieben werden. Sie würden Ost-Jerusalem und das Westjordanland praktisch trennen. Eine Zweistaatenlösung wird so immer schwerer erreichbar.

Die UN-Vertreter, die ich zum Abschluss des Tages treffe, sind klar: die humanitären Probleme hier könnten gelöst werden. Es geht nicht um Kapazitäten, es geht um den politischen Willen. Besonders bedrückend: die Situation der Kinder, von der UNICEF berichtet. Wir sprechen aber auch über den Tag danach und wie eine Lösung für die gesamte Region aussehen kann.

Am letzten Tag fahre ich ganz in den Süden der Westbank, um mich über die illegale Besiedlung der besetzten Gebiete und die zunehmende Siedlergewalt zu informieren. Der Zeitpunkt passt – leider – einmal wieder sehr gut: Gerade hat der zuständige Minister Smotrich von der extremen Rechten seine Annexionspläne vorgestellt. Es versteht sich, dass das nichts mit internationalem Recht zu tun hat. Während der kommenden Tagungen der Vereinten Nationen in New York werden weitere Staaten Palästina als Staat anerkennen. Einen Staat anzuerkennen, macht noch keinen Staat. Es gibt aber auch einen Zeitpunkt, an dem es nichts mehr anzuerkennen gibt. In Massafer Yatta wird mir der Fall von Odeh Hathalin geschildert. Die Dorfbewohner und eine Menschenrechtsanwältin berichten, dass er bei Protesten gegen den Siedlungsausbau von einem Siedler erschossen wurde. Der Siedler ist auf freiem Fuß und bedrängt die Menschen hier einfach weiter. Ich treffe Odehs kleinen Sohn und seine Mutter.

Statt Gerechtigkeit erleben die Menschen hier, wie Ihnen nach und nach die Grundlagen zum Leben genommen werden. Ihre Ziegenherde ist abgeschnitten von den Weidegründen. Der kleine Garten plötzlich mit Stacheldraht versperrt. Nachts kommt laute Musik. Frauen werden bedrängt, wenn sie ihre Häuser verlassen, nur um zur Toilette zu gehen. Mich erstaunt, wie ruhig sie scheinen. Sie sagen, sie wollen hier nur in Frieden leben. Mich bedrückt am meisten, Kinder in dieser Umgebung aufwachsen zu sehen. Auf der anderen Seite, als ich den Aufenthaltsraum der Frauen betreten darf, sehe ich das Glück in den Augen der Mütter und Großmütter, wenn sie ihre Kinder im Arm haben. Wo Kinder sind, ist irgendwie auch Hoffnung.

In Khallet-al-Thabe, der zweiten Station, wurde mal eben ein ganzes Dorf abgeräumt, das zuvor mit Mitteln aus Deutschland unterstützt wurde. Wir befinden uns hier im sogenannten C-Gebiet, das etwa 60 Prozent des Westjordanlands umfasst: Militärgebiet unter der Hoheit der israelischen Armee. Offenbar wird eine Fläche als „Firing Zone“ deklariert. Dann kommen die Abrissbagger, weil es in einer solchen Zone zu gefährlich sei. Und danach kommen die Siedler. Das Ganze ist nicht etwa nur ein schleichender Prozess, der vor den Augen der Weltöffentlichkeit stattfindet. Es ist eine Strategie, die die Regierung ganz offen verfolgt. Sie hat keine völkerrechtliche Grundlage.

Mit all diesen Eindrücken im Gepäck frage ich mich: Wie können wir weiterhelfen, wie können wir als internationale Gemeinschaft Druck aufbauen, um eine Lösung zu finden? Der Weg zu einem gerechten Frieden ist weiterhin weit, und er führt über die Anerkennung der Rechte und der Würde aller Menschen in dieser Region.

Auch diese Reise war eine Herausforderung. Ich habe es mir ja so ausgesucht. Aber zuhause wartet ebenfalls eine große Herausforderung. Nach solchen Reisen bringen mich Nachrichten wie „Wie wäre es also, sich endlich um die Menschen hierzulande zu kümmern“ an meine Grenzen. In den letzten Tagen war ich viel im Wahlkreis unterwegs, bei Bürgermeistern, bei Firmenbesuchen, oder einfach auf Festen, bei denen ich versuche, mit vielen Menschen in Kontakt zu kommen. Auch hier stellt man mir viele Fragen: Wie finanzieren wir die wachsenden Aufgaben der Kommunen? Wie sichern wir Arbeitsplätze? „Hilfe, mein Mitarbeiter wird abgeschoben? – nur einige der Themen. Und am Wochenende geht es gleich weiter. Vielleicht sehen wir uns?

Ein letzter Gedanke zu „Endlich um die Menschen hierzulande kümmern“… Was Goethe dazu sagen würde? „Wer nichts für andere tut, tut nichts für sich.“ Vielleicht hätten einige „hierzulande“ auch weniger schlechte Laune, wenn sie ein wenig mehr nach diesem Satz leben würden.

Was bleibt von der Reise? Der Krieg muss endlich enden. Je eher die Waffen ruhen, desto eher werden auch die verbliebenen Geiseln freikommen. Hilfsorganisationen müssen ihre Arbeit machen können, unabhängige Beobachter brauchen Zugang. Trotz der schrecklichen Lage in Gaza darf die Welt auch das Westjordanland nicht vergessen. Wir müssen hinsehen, damit eine Zweistaatenlösung möglich bleibt.

Deutschland hat eine besondere Verantwortung für Israel. Das gilt, unabhängig davon, wer in Israel regiert. Wir, die Bundesregierung, halten die Gesprächskanäle offen. Aber natürlich werde ich gefragt: Was bringen Eure Gespräche, ändert sich etwas? Zu Recht. Machen wir uns nichts vor: der entscheidende Faktor sind die USA. Es zeigt sich auch hier: Wir müssen als Europäer stärker werden, wenn wir mehr Einfluss haben wollen. Was mir Mut macht: Die Menschen und Initiativen – auf israelischer wie palästinensischer Seite –, die schon den Wiederaufbau planen, die daran arbeiten, dass sich der Hass nicht immer wieder am Hass nährt, sondern ein friedliches Zusammenleben möglich wird. Sie müssen wir stärken.

In diesem Video habe ich die Eindrücke meiner Reise auch nochmal festgehalten.

Freundliche Grüße

Ihr/Euer Lars Castellucci

 

Termine

  • Samstag, 13. September, 17:30 Uhr: Eröffnung Malschenberger Portugieserfest, Festplatz, Letzenbergstraße, Rauenberg