Liebe Genossinnen und Genossen,
liebe Freundinnen und Freunde,
diese Woche bin ich zu einer Dienstreise nach Italien aufgebrochen. In Zeiten weltweit zunehmender humanitärer Krisen geraten viele Themen schnell wieder aus dem Blick. Das Sterben auf dem Mittelmeer ist eines dieser Themen. Seit zehn Jahren beschäftige ich mich schon damit. Ich habe mir vorgenommen, mein neues Amt als Menschenrechtsbeauftragter zu nutzen: gegen das aus dem Blick verlieren, gegen die Gleichgültigkeit, gegen das Vergessen.
2024 sind mehr als 1.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Ohne diejenigen, die es von der Westsahara auf die Kanaren versucht haben. Ohne die, deren Reise schon in der Wüste oder einem Detention Center in Libyen endete. Zivilgesellschaftliche Organisationen gehen von noch höheren Zahlen aus. Ich bin nach Italien gereist, um mich persönlich über die Lage an den europäischen Außengrenzen zu informieren. Als Menschenrechtsbeauftragter ist dabei der Schutz von Menschenleben meine oberste Prämisse. Unter anderem darüber habe ich während der Reise auch mit dem Deutschlandfunk gesprochen. Das Interview gibt es hier.
In Palermo habe ich mich mit Sant’Egidio getroffen, die humanitäre Korridore organisieren. Etwa 8.500 besonders verletzliche Personen sind seit 2015 direkt aus großen Flüchtlingslagern auf sicheren und legalen Wegen nach Italien gekommen. Ohne dass Schlepper daran verdient haben. Leoluca Orlando, Anti-Mafia-Held und langjähriger Bürgermeister, schlägt vor, daraus ein europäisches Modell zu machen. Danach informierte mich Ärzte ohne Grenzen über ein Projekt für die Überlebenden von Folter. Ein Drittel von ihnen hat diese Erfahrung in Ländern gemacht, die Italien als sichere Herkunftsländer einstuft. Wie sicher können sie sein? Mit dem Präfekten des Innenministeriums, Massimo Mariani, und Honorarkonsul Militello habe ich mich dann vor allem zur Bekämpfung der organisierten Schlepperbanden ausgetauscht. Nicht mein Job als Menschenrechtsbeauftragter? Doch. Ohne Recht und Ordnung erleiden auch die Menschenrechte Schiffbruch.
Der Präfekt sagte außerdem, dass Italien Ankunftsland, aber nicht Zielland der Migrantinnen und Migranten sei. Gleichzeitig versucht die (rechtsnationale!) italienische Regierung in den nächsten drei Jahren 500.000 zusätzliche Arbeitskräfte ins Land zu locken – natürlich wie bei uns mit geringem Erfolg. Muss man die Menschen auf unsicheren Wegen sterben lassen, wo man doch sogar auf zusätzliche Arbeitskräfte angewiesen ist? Das muss besser gehen und darüber denke ich nach.
Aus Palermo ging es dann weiter nach Lampedusa. Der eigentliche Anlass meiner Reise: Ich durfte die Organisation Sea-Watch bei einem ihrer Aufklärungsflüge begleiten. In den letzten zehn Jahren haben zivilgesellschaftliche Seenotrettungsorganisationen mehr als 175.000 Menschen aus Seenot gerettet oder waren daran beteiligt. Dahinter verbergen sich Menschen wie der Pilot und der Einsatzleiter, die dafür Urlaub nehmen, um ein paar Wochen diesen Dienst zu tun, „einfach“ weil sie die Menschen nicht sterben lassen wollen. Sie haben mich tief beeindruckt.
Natürlich habe ich auch schon staatliche Rettungsmissionen besucht. Sehr beeindruckend war bspw. die italienische Mission Mare Sicuro, die erfolgreich Seenotrettung und Schleuserbekämpfung verbunden hat. Und auch in Spanien: Professionelle Leute, ebenso ihrer Aufgabe verschrieben. Die Wahrheit ist aber: Es reicht nicht. Und das hat sich während meiner Reise leider wieder gezeigt.
Der Aufklärungsflug begann in Lampedusa. Das Ziel: Ein Boot in Seenot, das Sea-Watch schon am Vortrag in libyschen Gewässern entdeckt hat. Tatsächlich fanden wir das Boot unweit der Koordinaten des Vortags. In unmittelbarer Nähe ein Tanker, in Sichtweite eine Ölplattform und weitere Schiffe. Einige Personen über Bord, Hilfe trotz aller bisherigen Notrufe: keine. Der Kapitän des nahen Tankers konnte dann per Funk zur Hilfe bewegt werden. Doch während der Rettung kenterte das Boot. Am Ende sind 92 Personen und sechs Kinder lebend an Bord genommen worden. Zwei Kinder tot, eine Person vermisst. Wir haben weitere knapp zwei Stunden versucht, die vermisste Person im Wasser zu finden. Ohne Erfolg. Als ich am Morgen als „Spotter“ eingeteilt wurde, hatte ich nicht realisiert, wie konkret es auf mich ankommen würde, Menschenleben zu retten oder eben nicht. Ich bin nun zu Hause und frage mich, ob die Kinder vielleicht noch am Leben wären und die vermisste Person hätte gefunden werden können, wenn mir im Flugzeug vielleicht etwas weniger schlecht oder ich einfach aufmerksamer gewesen wäre.
Kardinal Marx hat die Aufgabe einmal so beschrieben: „An unseren europäischen Außengrenzen kommt niemand zu Tode. Jeder, der an die Grenze kommt, wird menschenwürdig behandelt. Jeder Asylsuchende bekommt ein faires Verfahren. Niemand wird zurückgeschickt, wo Tod und Verderben drohen. Und wir tun alles in den Herkunftsländern der Migranten, dass dort Perspektiven für die Menschen sind.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
Es ist unklar, wohin die Aufgegriffenen verbracht werden. Der Tanker ist nicht für die Versorgung dieser Menschen ausgestattet. Zwei tote Kinder sind an Bord. Ich versuche nun, auf meinen Kanälen zu tun, was ich kann. Meine Empfehlung: zivile Seenotrettung weiter unterstützen, solange sie eben gebraucht wird. Dafür setze ich mich auch beim Außenminister ein. Aber noch wichtiger ist es, dass wir an einer europäischen Seenotrettungsmission arbeiten, die die zivile Seenotrettung unnötig macht. Die Lösungen für die Migrationsfragen liegen nicht auf See, sondern an Land. Hier habe ich das schon einmal aufgeschrieben. Deshalb werde ich weitere Reisen auch auf das nordafrikanische Festland unternehmen. Darüber berichte ich wieder.
Danke an die Crew von Sea-Watch, die ich begleiten durfte. Danke an alle Menschen, die tun, was sie können, um die Welt ein bisschen besser zu machen, jeder an seinem Platz, doch – dann können wir eine Menge erreichen.
Freundliche Grüße
Ihr/Euer Lars Castellucci
PS: Zu einem Thema, das diese Woche viele bewegt hat: Daniel Born hat einen schweren Fehler begangen. Wir kennen uns seit Jahrzehnten. Man steht nicht nur in guten Zeiten zusammen. Daniel hat den Fehler unmittelbar eingeräumt und Konsequenzen gezogen. Was ich mir am Ende wünsche: Daniel sollte nicht auf diesen Fehler reduziert werden. Kein Mensch sollte das. Vielleicht können wir mit etwas Abstand auch fragen, wie es zu dieser Kurzschlusshandlung kommen konnte. Dass jemand offenbar das menschenverachtende rechte Gebaren im Landtag nicht mehr ertragen konnte und auch nicht die schleichende Gewöhnung daran. Das Hakenkreuz auf dem Wahlzettel war ein schwerer Fehler und eines stellvertretenden Landtagspräsidenten nicht würdig. Ein Ermittlungsverfahren wird die rechtsstaatliche Bewertung der Tat liefern. Es war aber, so interpretiere ich es, auch ein Hilferuf, ein Ausrufezeichen, eine Warnung.
Termine
- Donnerstag, 21. August, 18:30 Uhr: Dämmerschoppen mit Bundestagsvizepräsidentin Josephine Ortleb und Livemusik von Olli Roth, Bussierhäusel in den Wieslocher Weinbergen